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Teil 1.2 - Digitalisierung & KI-Isierung sind keine IT-Projekte

Warum Systeme mehr brauchen als Technik

🪵 "Digitalisierung und KI-Isierung sind keine IT-Projekte..."


Diese These stand im Zentrum des vorherigen Beitrags. Sie lässt sich schnell nachvollziehen – zumindest auf der Oberfläche. Die eigentliche Irritation entsteht an einer anderen Stelle: Warum bleibt der erhoffte Wandel aus, obwohl diese Einsicht längst vorhanden ist und technische wie organisatorische Initiativen auf den Weg gebracht wurden?

Viele Organisationen erleben genau dieses Paradoxon. Die technischen Voraussetzungen sind geschaffen, Pilotprojekte verlaufen erfolgreich, neue Systeme werden eingeführt. Und dennoch bleibt das Gefühl, dass der erhoffte Wandel ausbleibt. Prozesse wirken weiterhin schwerfällig, Entscheidungen folgen bekannten Mustern, Verantwortung wird nicht neu verteilt. Digitalisierung scheint stattzufinden – ohne wirklich wirksam zu werden.
(siehe: Bürgermeisterbefragung zur Digitalisierung)

Die Ursache liegt nicht in der Technik. Sie liegt in den Systemen, in die diese Technik eingebettet wird.


🔧 Warum Technik Organisationen nicht verändert

Organisationen verändern sich nicht dadurch, dass neue Werkzeuge eingeführt werden. Sie verändern sich nur dann, wenn sich die Art und Weise verändert, wie sie entscheiden, koordinieren, handeln und lernen. Technik kann solche Veränderungen unterstützen, sie kann sie beschleunigen oder verstärken – sie kann sie aber nicht erzwingen.

Gerade in der Verwaltung ist das gut zu beobachten. Verwaltung ist kein loses Gefüge, sondern ein hochgradig strukturiertes System. Zuständigkeiten sind klar geregelt, Verfahren rechtlich abgesichert, Abläufe historisch gewachsen. Diese Stabilität ist kein Mangel, sondern eine Voraussetzung für Verlässlichkeit, Rechtssicherheit und Gleichbehandlung.

Neue Technik trifft daher nicht auf ein neutrales Feld, sondern auf ein bestehendes Gefüge aus Routinen, Entscheidungswegen und impliziten Regeln. Sie verändert zunächst vor allem die Oberfläche: Formulare werden digital, Informationen schneller verfügbar, Schnittstellen geschaffen. Was sich jedoch nicht automatisch verändert, sind die zugrunde liegenden Logiken – etwa:

  • wie Entscheidungen zustande kommen,
  • wer Verantwortung trägt,
  • welche Risiken akzeptabel sind,
  • welches Verhalten belohnt oder sanktioniert wird.

Technik passt sich dem System an. Nicht umgekehrt. Deshalb verstärkt Digitalisierung häufig genau das, was bereits vorhanden ist. 
Bürokratie verschwindet nicht – sie wird elektronisch. 
Silos lösen sich nicht auf, sie werden – digital. 
Bestehende Strukturen werden skaliert, nicht hinterfragt.


⚙️ Die Mechanik des digitalen Wandels

Ein zentrales Missverständnis besteht darin, digitalen Wandel als linearen Prozess zu denken: Eine Maßnahme wird eingeführt, ein Ziel definiert, ein Ergebnis erwartet. Diese Logik stammt aus klassischen Projekt- und Planungsvorstellungen – sie passt jedoch nicht zur digitalen Transformationen.

Digitalisierung entfaltet ihre Wirkung in Wechselwirkungen. Technische Veränderungen beeinflussen Prozesse. Veränderte Prozesse erzeugen neue Anforderungen an Führung und Steuerung. Führung reagiert mit Regeln, Prioritäten oder Kontrollen, die wiederum auf Nutzung, Akzeptanz und Wirkung der Technik zurückwirken. Das Ergebnis ist selten eindeutig und nur in Ansätzen planbar.

Ein bekanntes Symptom dieser Dynamik sind erfolgreiche Pilotprojekte, die nicht in die Breite kommen. Nicht, weil sie schlecht gemacht wären, sondern weil das umgebende System unverändert bleibt. Die Organisation ist nicht anschlussfähig genug, um die neue Logik aufzunehmen und wirksam werden zu lassen.

Digitaler Wandel ist deshalb kein Maßnahmenproblem.
Er ist ein Systemeffekt.

Gerade in stark regulierten Organisationen zeigt sich diese Mechanik besonders deutlich. Rechtliche Vorgaben, Zuständigkeitslogiken und Entscheidungswege erzeugen Stabilität – und zugleich Trägheit. Wird Technik eingeführt, ohne diese Wechselwirkungen mitzudenken, entsteht Reibung. Nicht, weil Menschen sich verweigern, sondern weil das System anders reagiert als geplant.


🧭 Digitalisierung als Paradigmenwechsel

Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum Digitalisierung und KI-Isierung mehr sind als bloße Optimierungsvorhaben. Sie markieren einen Paradigmenwechsel – nicht im Sinne eines radikalen Bruchs, sondern im Sinne veränderter Grundannahmen darüber, wie Organisationen funktionieren.

Digitale und KI-gestützte Systeme folgen anderen Logiken als klassische Verwaltungslogiken. Sie erzeugen kontinuierliche Rückmeldungen, verknüpfen Informationen über Bereichsgrenzen hinweg und unterstützen Entscheidungen in Echtzeit. Damit verschieben sie grundlegende Orientierungspunkte organisationalen Handelns:

  • von Stabilität hin zu Lernfähigkeit,
  • von langfristiger Planung hin zu beständiger, situativer Anpassung,
  • von Kontrolle hin zu Steuerung,
  • von Wissen als Besitz hin zu Wissen als Prozess.

Diese Logik passt nur begrenzt zu Organisationen, die auf Vorhersehbarkeit, klare Zuständigkeiten und eindeutige Verantwortlichkeiten ausgerichtet sind. Der eigentliche Paradigmenwechsel besteht daher nicht darin, neue Technik einzusetzen, sondern anders über Organisation nachzudenken.

Die zentrale Frage lautet nicht mehr:
Wie digitalisieren wir bestehende Abläufe?

Sondern:
Welche Entscheidungslogiken, Verantwortlichkeiten und Lernprozesse braucht eine Organisation in einer digitalen Umwelt?


🔄 Der Ausblick

Wenn Digitalisierung und KI-Isierung tatsächlich einen Paradigmenwechsel markieren, dann erschöpft sich ihre Wirkung nicht in Prozessen, Zuständigkeiten oder Entscheidungslogiken. Sie verändern grundlegender, wie Organisationen ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie mit Information umgehen und in welchen Räumen sie überhaupt handeln.

Was lange als technischer Fortschritt beschrieben wurde, entpuppt sich damit als tiefgreifende Verschiebung: von der Verarbeitung von Informationen hin zur Integration von Wissen, von klar abgegrenzten Organisationsräumen hin zu einem zunehmend virtuellen Handlungsraum, von expliziten Regeln hin zu impliziten Orientierungen. Digitalisierung wirkt nicht nur auf Strukturen – sie wirkt auf Aufmerksamkeit, auf Erwartungen und auf das organisatorische Selbstverständnis.

Im nächsten Beitrag richten wir den Blick deshalb auf diese Veränderungen selbst. Wir fragen, was es bedeutet, wenn Organisationen in einem Integrationszeitalter agieren, wie sich der virtuelle Raum als „unsichtbarer Kontinent“ organisationaler Praxis ausprägt und warum Digitalisierung zunehmend als Bewusstseinsprozess verstanden werden muss.

Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Orientierung wichtiger ist als Optimierung – und warum Digitalisierung und KI-Isierung nicht mit der Technik entschieden werden, sondern mit der Art, wie Organisationen sich in einer digitalen Umwelt verorten.

Teil 1.2 - Digitalisierung & KI-Isierung sind keine IT-Projekte
Thomas Cormann 16. Dezember 2025
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